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Barrierefreiheit – ein Mehrwert für alle

Fachtagung gab Anregungen zum generationengerechten Bauen im ländlichen Raum

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Der Vizepräsident des Thüringer Landtags, Dirk Bergner, plädierte in seinem Grußwort für fachlich fundierte Lösungen in Verbindung mit einer angemessenen kommunalen Finanzausstattung., Bild: Melanie Kahl, Erfurt

Etwas mehr als zwei Jahre ist es her als die Architektenkammer Thüringen gemeinsam mit vielen Akteuren, allen voran dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen Jürgen Dusel, zur Tagung „Inklusiv gestalten – Barrierefreiheit im Denkmalbestand“ in das Comcenter nach Erfurt einlud. Die Resonanz damals war mit mehr als 300 Gästen überwältigend. Anlass genug, weitere Fachveranstaltungen zum Thema folgen zu lassen und den Dialog zu vertiefen.

Am 13. Oktober 2020 war es soweit, der Fokus diesmal: das generationengerechte Bauen im ländlichen Raum. Erneut war das Interesse mit rund 200 Anmeldungen hoch. Etwa die Hälfte aller Interessierten konnte der Veranstaltung unter Einhaltung der Corona-Auflagen in der Stadthalle Apolda beiwohnen, weitere knapp 100 Teilnehmende waren per Livestream zugeschaltet. Der Präsident der Architektenkammer Dr.-Ing. Hans-Gerd Schmidt zeigte sich in seiner Begrüßung dementsprechend erfreut über „die außerordentliche, bundesweite Resonanz“.

Eingeladen hatte die Kammer zusammen mit dem Thüringer Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, Joachim Leibiger, dem Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie sowie den Architektenkammern Sachsen und Sachsen-Anhalt. Joachim Leibiger, der ein Grußwort sprach, bekräftigte nochmals die Notwendigkeit einer Landesfachstelle für Barrierefreiheit in Thüringen, die einen wichtigen Beitrag zur Beratung leisten könne. Wie es in benachbarten Bundesländern gelingt, Informations- und Beratungsstrukturen stärker zu institutionalisieren und welche Erfahrungen gemacht werden, das offenbarten die ersten beiden Fachvorträge.

Christine Degenhart, Präsidentin der Bayerischen Architektenkammer, stellte im Rahmen eines kurzweiligen Impulsvortrags neben vielen inspirierenden Beispielen zum inklusiven Wohnungsbau die Beratungsstelle Barrierefreiheit in Bayern vor, die seit mehr als 30 Jahren eine Anlaufstelle zu Fragen rund ums barrierefreie Planen, Bauen und Wohnen ist, von der Bayerischen Architektenkammer betrieben und vom Bayerischen Sozialministerium gefördert wird. Das Beratungsangebot wurde im Laufe der Jahre auf alle Lebensbereiche und inzwischen 18 Standorte ausgeweitet. Es handele sich um eine gebührenfreie Erstberatung, erklärte Degenhart. „Wir geben wichtige Impulse und zeigen die Richtung auf.“

Seit dem Jahr 2019 gibt es auch eine Landesfachstelle für Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt. Klemens Kruse, Leiter der Einrichtung, benannte als deren Aufgaben unter anderem die Unterstützung bei Zielvereinbarungen, den Aufbau eines Netzwerks sowie die Begleitung von Forschungsvorhaben und die Bewusstseinsbildung durch Öffentlichkeitsarbeit. Nötig wurde die Landesfachstelle auch deshalb, weil es ein Umsetzungsdefizit bei dem vielschichtigen und anspruchsvollen Thema gäbe, so Kruse. Mittlerweile sei die Landesfachstelle gut in bestehende Strukturen eingebunden und werde als kompetente Ansprechpartnerin in Fragen der Barrierefreiheit wahrgenommen.

Die Präsentation gelungener Praxisbeispiele stand im Mittelpunkt des zweiten Teils der Tagung. Richard Rossel, Bürgermeister von Zella-Mehlis, stellte in einem erfrischenden Vortrag das Bahnhofsumfeld der Kleinstadt im Südwesten Thüringens vor. Seine Botschaft an Kommunen und Planer: „Fixiert euch nicht nur auf die repräsentativen öffentlichen Gebäude, sondern legt den Finger auf die Ortseingänge und die Bereiche, wo Menschen sich begegnen und ein erster Eindruck entsteht.“ In Zella-Mehlis sei es von Anfang an wichtig gewesen, den Bahnhof als Gesamtanlage in den Fokus zu nehmen – „nicht nur als Gleisanlage, sondern als Lebensraum für die Menschen in unserer Stadt“. Weitere wichtige Aspekte, die den „Mobilitätsknoten des Jahres 2017“ auszeichnen, sind neben der Barrierefreiheit die Verknüpfung von öffentlichem Schienenpersonennahverkehr und ÖPNV, die bauliche Aufwertung sowie die Einbindung von E-Mobilität und E-Ladestruktur.

Der barrierefreien Innenarchitektur war der Vortrag von Kammer-Vizepräsident Frieder Kreß gewidmet. Angesichts des demographischen Wandels, einer alternden Bevölkerung vor allem im ländlichen Raum und der Schwierigkeiten bei der barrierefreien Nachrüstung des Gebäudebestands plädierte er dafür, Barrierefreiheit frühzeitig einzukalkulieren. Eine geschickte Planung würde helfen, den hierfür erforderlichen Raum zu gewinnen. Wie dies konkret aussehen kann und was Innenarchitekten alles zu berücksichtigen haben, illustrierte er anhand zahlreicher Best-Practice-Beispiele. Deutlich wurde, dass benutzerorientierte barrierefreie Raumkonzepte den Alltagskomfort aller fördern können. Barrierefreie Innenarchitektur sei dann am besten, „wenn man sie auf den ersten Blick nicht wahrnimmt“, betonte Kreß.

Im Planungsalltag stellt sich die Umsetzung von Inklusion und gesellschaftlicher Teilhabe sehr komplex dar. Welche Regelungen und Vorschriften zu beachten sind und welche Ermessensspielräume gerade im dörflichen und kleinstädtischen Kontext bestehen, erläuterte Dr. Markus Rebstock von der Koordinierungsstelle Barrierefreiheit beim Thüringer Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen. Die Barrierefreiheit werde als unbestimmter Rechtsbegriff durch Normen und Regelwerke präzisiert, erklärte Rebstock. Entscheidend für das barrierefreie Bauen ist die DIN 18040. Diese Planungsnorm arbeitet – wie auch das BGG, die ThürBO und die H BVA – mit sogenannten Schutzzielen, die oftmals auch auf andere Weise als in der Norm festgelegt erfüllt werden können. „Wir brauchen diese Regeln, müssen aber immer den Kontext berücksichtigen“, sagte Rebstock. So würden beispielsweise im öffentlichen Verkehrs- und Freiraum oftmals konkurrierende Nutzungsansprüche auftreten, die im Rahmen des Planungsprozesses untereinander abgewogen und im Kontext betrachtet werden müssten. Rebstock gab jedoch zu bedenken: „Wenn von der Norm abgewichen wird, muss der Planende nachweisen, dass das Schutzziel erfüllt wird.“ Eine Landesfachstelle für Barrierefreiheit könne bei der Einschätzung von Schutzzielerfüllungsfragen sehr hilfreich sein.

Eine moderierte Diskussion beschloss die anregende Tagung. Per Chat konnten auch die Teilnehmer, die dem Geschehen per Livestream folgten, Fragen stellen. Zum Ende der Debatte schlossen sie sich dem Dank für die gute Organisation und die interessanten Vorträge an und lobten zudem die „perfekte Übertragungsqualität“.

Abermals gelang es, Denkanstöße zu vermitteln und für die unterschiedlichen Bedarfe behinderter Menschen zu sensibilisieren. Auch wurde erneut sehr klar, dass nicht nur ein gealterter oder mobilitätseingeschränkter Personenkreis von barrierefreien Strukturen profitiert, sondern die gesamte Bevölkerung. Als Beleg wurde folgende Statistik mehrfach genannt: Für etwa zehn Prozent der Bevölkerung ist Barrierefreiheit unentbehrlich, für vierzig Prozent notwendig und für hundert Prozent komfortabel.

br

Mitschnitte der Vorträge und weitere Informationen:
www.architekten-thueringen.de/inklusivgestalten/laendlicherraum/

Richtlinien und Förderprogramme des Freistaates Thüringen 
(https://infrastruktur-landwirtschaft.thueringen.de)

veröffentlicht am 14.12.2020 von Björn Radermacher · Rubrik(en): News, Berufspolitik / Kammerarbeit, Berufspraxis

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